20.09.2022

Trauer

Sabrina Görlitz

Trauer ist nicht das, was du fühlst. Trauer ist das, was du tust.

Lasst eure Herzen vom Tod brechen und schaut, was passiert. Das war meine spontane Antwort auf Veits Frage, ob ich zum Ende unseres Gesprächs für seinen Podcast Alles Menschen noch ein paar Worte an die Zuhörenden richten möchte. Doch nachdem ich auf Meeting verlassen geklickt hatte, war ich verunsichert. Hatte ich das einfach so sagen können? Lasst eure Herzen vom Tod brechen und schaut, was passiert? Ernsthaft?

Es klang so daher gesagt, so simpel, und möglicherweise auch ein bisschen anmaßend. Meine Sorge, wenn ich als Geschichtenpflegerin für Sterbende öffentlich über Tod und Trauer spreche, ist jedes Mal, dass ich überheblich rüberkommen könnte. So nach dem Motto: Die hat ja gut reden, weiß die nicht, wie verdammt weh das tut, wenn jemand stirbt, den man liebt? Oder man sogar selbst kurz davor ist?

Ersteres kann ich auf jeden Fall mit einem klaren Ja beantworten. Vor etwas mehr als drei Jahren starb meine erste große Liebe: mein Vater. Sein Tod war unfassbar brutal. Nachdem er nach einem Herzstillstand wiederbelebt worden war und durch den Sauerstoffmangel schwerste Hirnschäden erlitten hatte, starb er viereinhalb Monate später an den Folgen jener Wiederbelebung ein zweites Mal. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand das Dach über den Kopf weggerissen. Ich war zwar schon 39 und mein Vater 72 gewesen, aber das ist egal. Wenn du eng mit einem Elternteil bist, dann spielt das Alter keine Rolle. Je länger jemand in deinem Leben war, desto mehr Zeit hattest du auch, ihn lieb zu haben. Jedenfalls war mein Herz gebrochen.

Und trotzdem fühlte es sich an, als würde ausgerechnet durch mein tieftrauriges Herz eine Lebendigkeit fließen, die ich so schon sehr lange nicht mehr gespürt habe. So eine Art Sehnsucht am Leben zu sein, während man am Leben ist. Ich wollte irgendetwas tun, was ich nicht tun würde, wäre mein Vater nicht gestorben. Ich weiß nicht, ob ich aus der berühmten Sch… Gold machen wollte, aber ich wollte das Gold darin finden, vielleicht kann man es so sagen. Und mein gebrochenes Herz wies mir den Weg.

Durch eine mysteriöse Verkettung von Zufällen, deren Geschichte zwar den Rahmen dieses Textes sprengen würde, die ich aber mit meinem durch die Trauer frisch aktivierten Sinn für Wunder zu deuten wusste, landete ich drei Monate später auf einer kleinen kanadischen Insel im pazifischen Ozean. Auf Salt Spring Island stieß ich auf die Arbeit des Autors und Kulturaktivisten Stephen Jenkinson.

Er hatte lange Jahre als Seelsorger auf Palliativstationen gearbeitet, und diese Zeit hatte seinen Blick auf Tod und Trauer auf eine Art und Weise geschärft, mit der ich in tiefe Resonanz ging. Mit einer neuen kanadischen Freundin, deren Vater nur drei Wochen nach meinem gestorben war, schaute ich mir eine Dokumentation über Jenkinsons Arbeit an: The Griefwalker.

Zum Schluss dieses Filmes, der mich beeindruckt hatte wie kein zweiter, resümierte Jenkinson:

Die echte Trauer, die große, sie kommt aus der Erkenntnis, wie das Leben ist und sein muss. Dass es den Tod erfordert, um weitermachen zu können, denn der Tod nährt alles, was lebt. Die Erkenntnis, dass dies der Fall ist und nicht nur dich einschließt, das ist der leichte Teil, aber er schließt auch die Menschen ein, die du liebst und die Dinge, von denen du nicht willst, dass sie enden. Das ist Trauer und sie ist nicht persönlich. Trauer ist kein Gefühl, Trauer ist nicht das, was du fühlst, Trauer ist das, was du tust. Trauer ist eine Fähigkeit. Und der Zwilling der Trauer ist die Fähigkeit, das Leben loben oder lieben zu können, das heißt, wo immer man das eine authentisch gemacht vorfindet, ist das andere ganz nah.

Und vielleicht fasst dieses Zitat ganz gut zusammen, was ich im Gespräch mit Veit rüberbringen wollte. Wenn der Tod dir das Herz bricht, dann kannst du eigentlich auch gar nicht viel dagegen tun, es sei denn du hast dein Herz schalldicht und in ein Luftkissen verpackt. Aber wenn es eh schon gebrochen ist, dann kannst du zumindest schauen, wie du ein gebrochenes Herz haben kannst. Du kannst so tun, als ob nicht viel passiert wäre, dann machst du weiter wie bisher und gibst den Menschen in deiner Umgebung das Gefühl, allein klarzukommen und dass es dir gelingt, das Geschehene schnell hinter dir zu lassen. Das ist, was wir in unserer Gesellschaft unter gut im Trauern sein verstehen – wenn man es dir nicht ansieht. Offiziell nennt man es stark sein.

Oder du kannst versuchen, in einer Situation, in der alles nach Trauer schreit, zumindest auch ein bisschen traurig zu sein. Wie leicht das klingt und wie schwer das trotzdem ist, habe ich wenige Tage nach meinem Gespräch mit Veit am eigenen Leib erlebt.

Es war ein Donnerstagmorgen Anfang September, in wenigen Stunden würde mein Flieger nach Irland gehen. In meinen Zwanzigern hatte ich mehrere Jahre in Dublin gelebt, es war die beste Zeit meines Lebens gewesen. Lange hatte ich geglaubt, ich würde für immer dableiben, aber offensichtlich ist es anders gekommen. Seither war ich ein paar Mal wieder dort gewesen, auch pandemie-bedingt aber schon über drei Jahre nicht mehr. Auf jeden Fall nicht, seitdem mein Vater gestorben war. Doch nun tourte Stephen Jenkinson mit seiner Band durch Irland – eine besondere Mischung aus Lesung und Konzert, das Ganze nannte sich Nights of Grief and Mystery. Ich hatte schon viel von davon gehört und diesmal wollte ich unbedingt dabei sein.

Ich hatte gerade ein Buchmanuskript fertiggestellt und der Kurztrip in meine Herzensheimat sollte die Belohnung dafür sein, dass ich es den ganzen August lang bei 30 Grad plus überarbeitet hatte. Für mein Buch hatte ich mir auch ein paar Wochen Auszeit von meinem eigentlichen Job genommen – seit 2019 zeichne ich als gelernte Journalistin und ausgebildete Palliativbegleiterin die (Lebens)Geschichten von sterbenden Menschen auf. Bevor es also zurück auf die Palliativstation ging, wollte ich ein paar Tage auf die grüne Insel. Dass ich Stephen Jenkinson, der mir zu einer Art Mentor und Fernlehrer in Trauer geworden war, diesmal nicht auf dem Bildschirm, sondern live auf einer Bühne sehen würde, war die Kirsche auf der Torte.

Eigentlich war also alles gut – bis auf die Tatsache, dass ich direkt nach dem Aufstehen in Tränen ausgebrochen war. Es ging nur um fünf Tage, aber ich konnte mir auf einmal nicht vorstellen, nur eine einzige Nacht von meiner kleinen Familie getrennt zu sein. Die Vorstellung, allein in einen Flieger zu steigen, war absolut zu viel für mich. Ich wusste nicht, was mit mir los war.

Als mein Mann unseren Sohn zur Schule brachte, rief ich völlig aufgelöst meine Freundin Akua an. Ich war bereit, mehrere Hundert Euro in den Sand zu setzen und auf mein Irland-Comeback inklusive Konzert zu verzichten. Ich wusste bloß nicht, wieso.

Kann es sein, dass dieser Trip auch etwas mit deiner eigenen Trauer zu tun hat? fragte Akua. Ich fühlte mich ertappt.

Kann schon sein, sagte ich, immer noch schluchzend. Es ist das erste Mal, dass ich nach Irland fliege, seitdem Papa tot ist. Und es ist jetzt schon so lange her, dass ich dort gelebt habe. Ich weiß gar nicht mehr so richtig, was ich dort überhaupt soll. Die meisten meiner alten Freunde sind längst fort, mindestens einer ist sogar schon tot. Wenn ich so in mich reinfühle – dann kann es sein, dass es das letzte Mal ist, dass ich nach Irland fliege. Und ich weiß nicht, was das mit mir macht.

Hat dein Manuskript nicht den Arbeitstitel Die verlernte Trauer? fragte Akua.

Ja. Eben. Und vorgestern hatte ich das Podcast-Interview mit Veit Lindau, und ich habe wieder mal davon geredet, dass Trauern eine Fähigkeit ist. Und jetzt sitze ich hier und will sie so schnell wie möglich loswerden.

Okay, also wenn du jetzt nicht nach Irland fliegst, dann kannst du auch das Manuskript zurückziehen. Und den Podcast mit Veit Lindau gleich mit. Alles andere wäre unglaubwürdig.

Es war der Schubs, den ich gebraucht hatte. Oder wie Stephen Jenkinson sagte: Trauer ist nicht das, was du fühlst, Trauer ist das, was du tust.

Fünf Tage später ziehe ich meinen Koffer über die kleinen Kopfsteingassen von Temple Bar, einem kleinen quirligen Viertel von Dublin. Einst als alternatives Künstlerquartier bekannt, ist es heutzutage vor allem Touri-Magnet, zu meinen Zeiten war es noch irgendetwas dazwischen. Ich bin auf dem Weg zum Bus, der mich zurück zum Flughafen bringen wird. Die letzten Tage waren intensiv. Den ersten Abend hatte ich noch mit einem Freund verbracht, am Freitag war ich dann mit dem Zug in den wilden Westen von Irland gefahren, nach Galway, einer kleinen Stadt am Atlantik. Beinahe hätte ich auch dort mal gelebt, und es war ein bisschen so, als würde ich mir 13 Jahre später das Leben anschauen, das ich verpasst hatte. Ausgerechnet dort, in einem kleinen alten Theater, sah ich mir auch Jenkinsons Auftritt an. Ein Abend, an dem Abschiednehmen das Hauptthema war. Für den ausverkauften Dublin-Gig war ich zu spät dran gewesen, in meiner alten Heimat hatte es bezeichnender Weise keinen Platz mehr für mich gegeben.

Verlangen wir nicht ein bisschen viel von den Leuten? hatte Jenkinson während der Show seinen Kompagnon Gregory Hoskins gefragt, einen kanadischen Singer Songwriter. Ist es vielleicht zu viel verlangt, sie in Zeiten wie diesen zu bitten, zu einer Veranstaltung kommen, in der es so viel um Tod und Trauer geht?

Hoskins hielt einen Moment inne. Ich glaube, es erfordert tatsächlich ziemlich viel Liebe – für einen selbst, aber auch für alle anderen – an einem Freitagabend, wo du überall sein könntest, an einem Event teilzunehmen, das sich Nights of Grief and Mystery nennt.

Ich musste an Akuas Worte denken. Ich hatte es geschafft, ich war den ganzen weiten Weg gekommen und hatte mich meiner Trauer gestellt. Gerade die Trauer um meinen Vater kommt in meinem Alltag oft zu kurz. Zwar treffe ich in der Regel mindestens einmal die Woche einen sterbenden Menschen und unterstütze ihn und seine Familien durch meine Arbeit – das heißt aber nicht, dass ich deswegen selbst immer so genau weiß, was zu tun ist, wenns um mich geht. Am Tag nach dem Konzert an den mächtigen Klippen von Moher zu sitzen, in einem Land, das einst mein Zuhause war und jetzt nicht mehr, auf den ewigen Atlantik zu schauen und ein bisschen traurig darüber zu sein, dass man selbst und alle Menschen, die man liebt, vergänglich sind, und sie trotzdem oder gerade deswegen über alles zu lieben, also auch über den Tod hinaus – das ist immerhin schon mal ein Anfang gewesen.

Und jetzt ziehe ich mein Koffer durch Temple Bar und sehe aus wie eine gewöhnliche mittelalte  Touristin, denke ich. An einem Ort, der einst ein Teil von mir war. Da drüben das kleine Café, in dem ich als Barista gearbeitet habe – mein erster Job in Dublin. Die Creperie, vor der ich einem Jungen, der dort arbeitete, betrunken einen Zettel als Fahrrad klebte, weil ich ihn so süß fand. Die alte Kneipe, in der ich mit meiner internationalen WG saß, Musik hörte und Party machte. Was für eine unglaublich gute Zeit wir hatten!

Inmitten all der lebendigen Geschäftigkeit um mich herum, fühle ich mich auf einmal seltsam leer. Wie ein Geist wandle ich zwischen all denen, die jetzt gerade die Zeit ihres Lebens in Dublin zu haben scheinen. So vieles sieht genauso aus wie früher, aber nichts fühlt sich wie früher an.

So müssen sich die Menschen fühlen, deren Geschichten ich aufzeichne, denke ich. Sie dürfen mit mir noch einmal durch die wichtigsten Stationen ihres Lebens reisen, dabei erzählen sie mir von ihren intensivsten Momenten, und ich bin so etwas wie ihre letzte Zeugin. Aber eigentlich sind sie schon unwiderruflich auf dem Weg, der sie aus dem Land der Lebenden wieder hinausführt, das Land, indem ihr Visum unwiderruflich abgelaufen ist.

Vielleicht fühlen sie sich tatsächlich ein kleines bisschen so wie ich an diesem Nachmittag, meinen Koffer hinter mir herziehend, auf einmal eine Fremde an einem Ort, den ich einmal so sehr geliebt habe. Und von dem ich immer glaubte, dass er mich auch liebt.

Irgendetwas stoppt mich, und ich bleibe unmittelbar stehen. Ist hier wirklich gar nichts mehr von mir übrig? Hat Dublin mich vergessen, als wäre ich niemals hier gewesen?

Die Antwort kommt aus der Kneipe, neben der ich stehe. In der ich so manches dunkle Pint getrunken habe und in der heute wie damals gefühlt non-stop Live Musik gespielt wird.  

Do you remember when we used to sing? schallt es zu mir hinaus auf die Straße.

You, my brown eyed girl?

Das Lied von Van Morrisson war schon alt, als ich jung war, aber in Irland ist es immer mein Lied gewesen – ich war das brown eyed girl unter den zumeist helläugigen Irinnen. In dem Moment hatte ich endlich das Gefühl, das Irland sich für einen Augenblick auch wieder an mich erinnerte. Einen Augenblick, den ich vielleicht verpasst hätte, hätte ich mein angebrochenes Herz nicht dafür offengehalten, noch ein kleines Stückchen weiter einzureißen.

Sterben ist nicht wie irgendetwas, was für schon mal gemacht haben. Es gibt keinen Vergleich dafür. Deswegen mag ich den Spruch Von Sterbenden kann man lernen auch nicht so gern, weil er suggeriert, dass allein der Prozess des Sterbens aus jemanden einen weisen Menschen macht. Dabei dürfen wir nicht vergessen: Auch der Sterbende stirbt zum ersten Mal und er weiß genauso wenig wie das geht, wie wir, die gerade nicht akut sterbend sind. Um also nochmal auf die zweite Frage zurückzukommen, die ich eingangs gestellt habe:

Nein, ich weiß nicht, wie sich das anfühlt, wenn man weiß, dass man bald sterben muss. Aber in Anbetracht all dessen, was ich bisher über Trauer gelernt habe – durch den Tod meines Vaters, die Arbeit von Stephen Jenkinson, meine Tätigkeit auf der Palliativstation und durch den Abschied von einem Ort, an dem ich mich so lebendig gefühlt habe wie nirgendwo anders – würde ich den Satz Lasst eure Herzen vom Tod brechen und schaut, was passiert im Zweifel dann doch lieber so stehen lassen wollen. Denn was ist die Alternative zu einem gebrochenen Herzen?

Genau. Weniger Herz.

Sabrina Görlitz