26.04.2022

Coming out, going public | Notwendig oder nicht?

Authentizität und Integrität verlangen eine Kongruenz der inneren und äußeren Welt | Lukas Neumüller

Aus heutiger Sicht ist in Österreich sowohl die eingetragene Partnerschaft als auch die Ehe für alle seit 01.01.2019 möglich.

Trotz dieser gesetzlichen Lage muss sich jede Person, die nicht heterosexuell geprägt ist, unserer Gesellschaft stellen.

Ein Gesetz ändert nicht automatisch die Ansichten und Einstellungen einer Gesellschaft. Jeder Mensch mit einer bunteren sexuellen oder geschlechtlichen Prägung, der ein authentisches Leben führen möchte, ist (auf)gefordert seine innere Welt der äußeren preiszugeben.

Ein Coming out/Going Public ist für jede*n anders. Keines kann mit dem anderen gleichgesetzt werden, jedoch haben alle etwas gemeinsam – Angst.

Abhängig vom Wohnort (oder auch Staat), der Lebensphase (Schüler*in, Lehrling, Student*in, Arbeiter*in, …) und der körperlichen beziehungsweise geistigen Gesundheit, wird ein Coming Out/Going Public erleichtert oder erschwert.

Jedes Coming Out/Going public erfordert immer Mut, Selbstbewusstsein und Zeit.

Die Frage dieses Kommentars ist, ob es notwendig ist, ein Coming Out/Going public, durchzuziehen.

Die Antwort darauf ist ja, sofern jener Mensch in unserer Gesellschaft authentisch und integer leben möchte. Hier stellt sich aber eine weitere Frage.

Allein das Wort notwendig wirft die Frage auf, welche Not einer Wendung bedarf.

In einer Gesellschaft, die selbst authentisch und integer funktioniert, wäre die Frage nach sexueller Orientierung beziehungsweise Geschlechteridentität nicht zu stellen.

Hier würde keine Not einer Wendung bedürfen, sondern es würde jeder problemlos und selbstverständlich selbstbestimmt leben können.

Coming/Out Going public wäre in dieser utopischen (oder sogar futuristischen) Struktur obsolet.

Aus einer anderen Perspektive betrachtet, geht es beim Coming out/Going public schlussendlich auch um Identifikation mit der Homosexualität.

Den Mut zu haben und öffentlich zu sagen, „Ich bin schwul/lesbisch“, bedeutet gleichzeitig, eine Identität zu erschaffen.

Die Gefahr, die sich jedoch dahinter verbirgt, ist sehr latent. Sich selbst primär immer als Schwuler, Lesbe oder trans zu bezeichnen, erschafft unterschwellig ein Abgrenzen von den „anderen Menschen“.

Die wichtigste Identifikation, die Menschen sich aufbauen sollten, ist menschlich zu sein.

Alle weiteren Identifikationen, die uns individuell und frei leben lassen können, müssen vom Standpunkt aus „Ich bin Mensch“ in der Gesellschaft integriert werden, um eine wirklich menschenwürdige Gesellschaft aufzubauen.

Am Beispiel unserer Gesellschaft haben wir durch fehlerhafte Identifikationen sogenannte Minderheiten oder marginalisierte Gruppen erschaffen und dabei vergessen, dass wir alle in erster Linie Mensch sind uns mehr als ausschließlich sexuelle oder gesellschaftliche Rollen zu erfüllen beziehungsweise Bedürfnisse zu stillen haben.


Lukas Neumüller