30.05.2020

Der Heilige Geist des Lebens

Heiliger Geist | Heiliger Atem

Auch wenn ich keiner der offiziellen Religionen angehöre, finde ich es interessant, an deren großen Feiertagen nach der tieferen Bedeutung dieser Feste zu forschen. Denn verborgen unter Regeln transportieren alle religiösen Traditionen die kollektiven Mythen der Menschheit.

Jede der alten Geschichten lässt sich wörtlich interpretieren und dann berührt sie wohl nur jene, die z.B. bibeltreu leben. Doch lesen wir sie mit offenem Verstand und lauschendem Herzen, offenbart sich uns eine tiefere Bedeutungsebene, an der wir alle teilhaben können.

Pfingsten bedeutet übersetzt fünfzigster Tag. Am 50. Tag des Osterfestkreises, 49 Tage nach dem Ostersonntag, wird von Christ:innen die Entsendung des Heiligen Geistes gefeiert. Im 2. Kapitel der Apostelgeschichte werden die Erfahrungen der Jünger Jesu beim Pfingstfest, dem jüdischen Schawuot-Fest, in Jerusalem geschildert: Die versammelten Jünger wurden beim jüdischen Schawuot-Fest vom Heiligen Geist erfüllt. In der Bibel steht dazu:

„Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.“

Das klingt vielleicht erst einmal eigenartig. Doch weißt du, dass das aramäische Wort, in dieser Sprache hat Jesus gelehrt, für Geist (ruha) auch Atem bedeutet? Finden wir nicht auch in so gut wie jeder anderen spirituellen Tradition Hinweise auf die Schlüsselrolle unseres Atems für die körperliche Gesundheit, den Stressabbau, aber eben auch für die Entwicklung unseres Bewusstseins?

Ob bei den Schamanen, den alten Veden oder im Yoga, der Atem galt als Schlüssel zu alternativen Bewusstseinszuständen. Wer schon einmal an einer bioenergetischen Session oder dem Holotropen Atmen, einem Trance Tanz oder einer intensiven Yoga Session teilgenommen hat, wundert sich auch nicht mehr über das Sprechen in fremden Sprachen. Über unseren Atem können wir die Frequenz unserer Gehirnwellen nachweislich beeinflussen und somit unsere Wahrnehmungsebene verschieben, unsere Sinne verfeinern, Zugang zu bisher unbewussten Arealen unserer Psyche gewinnen.

Atem ist Leben. Atem ist Energie.

Wie ein Mensch ein- und ausatmet, sagt sehr viel darüber aus, wie er generell mit dem Leben in Verbindung steht. Flach und nervös? Zurückhaltend? Oder sanft, offen, entspannt?

Wie lässt du die Erfahrungen des Lebens in dich einströmen und wie gut bist du im Loslassen? Wie oft greifen wir zu Alkohol oder anderen Drogen, um uns locker zu machen oder endlich mal wieder staunen zu können? Dabei trägt jeder von uns den mächtigsten Schlüssel für eine schnelle Bewusstseinsveränderung die ganze Zeit in sich. Einige bewusst und tief genommene Atemzüge und schon verändert sich deine Wahrnehmung.

Heiliger Geist, heiliger Atem.

Keine Angst vor dem Wort „heilig“. Es bedeutet nicht, wie leider heute von vielen assoziiert, irgendetwas Abgehobenes. Heil kommt von ganz. Heilig ist alles, was dich ganz, vollständig macht. Viele Menschen existieren nicht ganz. Sie leben zerstreut, zerrissen, abgelenkt. Ihr Geist pendelt zwischen Vergangenheit und Zukunft wie wild hin und her. Er wird durch die tausend Ablenkungen des modernen Alltags mehr und mehr zerfasert. Ein Mensch mit einem so defokussierten Geist ist nicht mehr ganz zuhause. Er ist überall ein bisschen und nirgendwo wahrhaft.

Bist du zuhause? Bist du wirklich da?

Wenn wir nicht präsent sind, nicht ganz, geht uns die Wahrnehmung für das Heilige unseres Lebens verloren. Unser Verstand schaltet auf Routine. Der Zauber zieht sich zurück. Wir hören nicht mehr den wundersamen Klang der Amsel vor unserem Fenster. Regen (besonders zu Pfingsten!) stört nur noch, anstatt die Tropfen vom Himmel mal wieder ganz bewusst unser offenes Gesicht küssen zu lassen. Wenn wir nicht ganz sind, erleben wir unsere Mitmenschen nur halb. Wir nehmen ihre Körper neben uns am Frühstückstisch wahr. Aber wann haben wir das letzte Mal so tief und still in ihre Augen geschaut, dass wir ihre Seele sehen konnten?

Wenn wir nicht ganz sind, können wir uns selbst nicht so vorbehaltlos lieben, wie wir es verdient hätten. Der oberflächliche, abgelenkte Geist schießt sich gern auf die Schwachstellen ein. Der wache, entspannte Geist schaut ein Wunder, wenn er in den Spiegel sieht.

Tiefer, bewusster Atem macht dich präsent. Er ruft deine verstreuten Bewusstseinsfragmente aus deinen Sorgen, Träumen und Ablenkungen zusammen und lädt sie zu dem einzigen und deshalb so kostbaren Moment Leben ein, den du wirklich hast, jetzt, hier, in der Gegenwart.

Ich weiß nicht, was die Jünger Jesu da zu Pfingsten wirklich getrieben haben. Vielleicht hatten sie eine gute, wilde Atemsession. Irgendetwas haben sie jedenfalls getan, was sie in Ekstase versetzt hat. Ekstase, noch so ein Schreckwort in unserer vom Kontrollwahn befallenen Gesellschaft. Dabei bedeutet es doch nur, endlich mal wieder verzückt außer dir zu sein.

Ich glaube, wir können alle, angefangen bei Frau Merkel bis hin zu dir und mir, mehr Ekstase vertragen. Mehr Freude außer Rand und Band. Mehr Momente ohne Konzepte. Dafür im nackten Kontakt mit dem, was jetzt gerade wirklich ist.

Wie würden die Diskussionen im Bundestag verlaufen, wenn alle erst einmal zehn Minuten lang wild atmen und tanzen würden?

Wie würde ein Vater mit seiner kleinen Tochter sein, nachdem beide ekstatisch in einer Pfütze gespielt hätten?

Wie wäre es, wenn der Imam, der Priester und der Atheist zuerst an einer Bionergetiksession teilnehmen und alle Zellen ihres Körpers von Leben durchfluten lassen, um dann zu schauen, ob es wirklich noch etwas über Gott zu diskutieren gibt? Oder ob sie sich einfach nur noch verständnisvoll grinsend in die Arme fallen würden?

Ekstase tut uns allen gut.

Wie wäre es, wenn wir heute alle den Heiligen Geist in unser Leben rufen?
Frei von Dogmen und religiösem Branding.

Wenn wir uns heute alle für ein frisches Staunen öffnen und uns dort treffen, wo Köpfe keinen Zugang haben?

Dafür musst du keine Drogen nehmen.

Mach die Fenster weit auf.
Öffne die vielleicht zu enge Gürtelschnalle.
Leg dir eine Musik auf, die dein Herz berührt und deine Lenden zum Beben bringt.
Dann atme, tief, in den Bauch. …und tanze, als wenn niemand dich sieht, außer dein Leben.
Hallelujah.